Überall standen Grüppchen zusammen und unterhielten sich. Frau Anderssohn und Frau Sickert, die Ausstellungsbetreuerinnen der Gedenkstätte, hatten alle Hände voll zu tun, neuen Kaffee zu kochen und das liebevoll hergerichtete Büffet in Ordnung zu halten. Überall wurde geredet und diskutiert. Einige Frauen und Männer waren das erste Mal wieder an dem Ort, an dem sie als Jugendliche ohne Gerichtsbeschluss zur Disziplinierung inhaftiert gewesen waren. Die Verletzungen von damals waren vielen deutlich ins Gesicht geschrieben.
Besonders nahe ging den Anwesenden die Lesung von Heidemarie Puls, die gemeinsam mit einer guten Freundin aus Mecklenburg angereist war, um aus ihrem zur Zeit entstehenden Buch “Schattenkinder hinter den Mauern Torgaus” zu lesen. Darin arbeitet sie ihre von familiärer und staatlicher Gewalt geprägte Kindheit und Jugend in der DDR auf.Nach sexuellem Missbrauch durch ihren Stiefvater hatte sich Heidemarie als junges Mädchen versucht, das Leben zu nehmen. Daraufhin kam sie ins Heim, woraus sie aufgrund von Übergriffen anderer Jugendlicher mehrfach weglief. Deshalb wurde sie schließlich in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingewiesen. Ihre Freundin Frau Kujat, Geschichtslehrerin, lernte sie nach einem totalen psychischen Zusammenbruch nach Jahren der Verdrängung in einer psychiatrischen Klinik kennen. Die beiden Frauen freundeten sich an, die Idee, Heidemaries Erinnerungen in einem Buch zu verarbeiten, wurde geboren. Am Samstag nun lasen beide aus dem Buch von Heidemarie Puls, ihre Begleiterin sprang immer dann ein, wenn Frau Puls von ihren Gefühlen überwältigt wurde und eine Pause benötigte.
Mit hoher Aufmerksamkeit lauschten die Anwesenden den beeindruckenden und schockierenden Schilderungen. Als Heidemarie Puls ihre Gefühle bei ihrer Ankunft im Jugendwerkhof Torgau beschrieb, hatten sicher viele Betroffene ihre eigene Einweisung vor Jahren vor Augen und damit das Gefühl von Demütigung, Angst und Fassungslosigkeit. Viel Applaus und Respekt bekamen die beiden Frauen für ihren Mut, mit dieser Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen, um anderen Opfern der DDR-Heimerziehung Mut zu machen und mitzuhelfen, dass deren Schicksal nicht in Vergessenheit gerät.
Dieses Ziel verfolgte auch das Tanzstück “Schocktherapie” von Golde Grunske, das 16.00 Uhr in der Kulturbastion vor den Teilnehmern aufgeführt wurde. Die Tanzperformance der fünf Tänzerinnen, alle an der Palucca-Schule Dresden ausgebildet, beeindruckte und bewegte die Zuschauer sehr. Erst die finanzielle Unterstützung von AVANCIS Torgau und der Sparda-Bank Berlin ermöglichte eine Aufführung des schon in Cottbus und Dresden gezeigten Tanzstückes. Weitere Aufführungen in Berlin werden im Oktober folgen.
Am Vormittag hatte die Jahresmitgliederversammlung der Inititativgruppe Geschlossener Jugendwerkhof e.V. getagt. Viel Lob gab es für die Arbeit des Vereinsvorstandes und der Mitarbeiterinnen der EBS. Gabriele Beyler wurde einstimmig zur neuen Vorstandsvorsitzenden, Bettina Klein zu ihrer Stellvertreterin gewählt.
Ungewöhnlich hohes Interesse fand das Treffen bei Vertretern aus Politik und Verwaltung. Die langjährigen Begleiter und Unterstützer der Gedenkstätte Manfred Kolbe (MdB), Christoph Waitz (MdB), Dr. Klaus-Dieter Müller (Kommiss. Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten), der Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen von Sachsen-Anhalt Gerhard Ruden sowie Günther Sirrenberg als Vertreter des Landkreises Nordsachsen, nahmen sehr interessiert am Treffen teil. Ministerialdirigent Thomas Früh überbrachte die Grußworte der Sächsischen Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst Dr. Eva-Maria Stange. Früh hob besonders die Bedeutung der Zeitzeugen für die Bildungsarbeit der Gedenkstätte hervor und betonte die Notwendigkeit, die repressiven Strukturen des Bildungs- und Erziehungssystems der DDR weiter aufzuarbeiten.