Sie verharren im Freien, mit dem Blick “zurück”, ins Gebäude, wenden sich zögernd den Zuschauern zu, den Feuerstätten vor ihren Füßen, zerren an ihren Sachen, als wollten sie sich einer nutzlos gewordenen, ungeliebten Haut entledigen. Jeder versucht auf seine Weise festgeschriebenes Erinnern zu tilgen, und eine der vier Frauen wirft ein Hemd ins Feuer.
Wie in dem russischen Märchen, wo der Prinz die Froschhaut verbrennt, damit seine geheimnisvoll schöne Frau ihn nicht mehr verlassen kann, und gerade darum verliert er sie und muss Gefahren bestehen, um sie erneut zu gewinnen.
Die jetzt an zwei Abenden im Kunstmuseum Dieselkraftwerk uraufgeführte Tanzperformance der in Cottbus lebenden Choreografin Golde Grunske trägt den Titel “danach”, und da lässt sich schon schlussfolgern, dass sie damit unmittelbar an ihre erste größere Arbeit “Schocktherapie” anschließt. Mit fünf Tänzerinnen brachte sie diese 2008 zum Abschluss ihres Choreografiestudiums an der Palucca Schule Dresden zunächst in der Kleinen Szene der Sächsischen Staatsoper, dann im Dieselkraftwerk Cottbus sowie an weiteren Orten zur Aufführung. Golde Grunske thematisierte mit diesem Werk auf berührende Weise Schicksale im ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau (1964 bis 1989).
Die neue Choreografie befasst sich anhand recherchierter Biografien speziell mit jener nachfolgenden Zeit, in der für die Betroffenen die Erinnerung an Demütigungen, Misshandlungen, Abläufe immer wieder auflebt. Trotz Rückkehr in ein vermeintlich normales Leben – was ist schon normal in derart gebrochenen Biografien und Umbruchzeiten? – lässt sich das schockierende Erleben nicht auslöschen, und der Gedanke daran bleibt für die “Ehemaligen” dauerhaft schmerzhaft, wird wie ein Stein in den Brunnen geworfen und bleibt dennoch gegenwärtig.
Golde Grunske sucht für jenes vergiftete Leben “danach” beredte Bilder, schafft Metaphern für traumatisierendes Erleben überhaupt, setzt sich mit verheerenden Folgen von Willkür und perfidem Machtrausch auseinander. Und lässt aus den Begegnungen mit Zeitzeugen, der Erzählweise ihrer Stücke erahnen, wie schwer und dennoch überschaubar es ist, sich im unmittelbaren Geschehen zu verhalten. Aber “danach” sitzt die Verletzung, der bohrende Dorn tief im eigenen Ich, und die Betroffenen schleppen die Erinnerung als Bürde mit sich herum, ohne sie je abwerfen zu können. Sie schweigen, auch gegenüber ihren Angehörigen, fühlen sich schuldlos schuldig – manche zerbrechen daran.
Die vier Tänzerinnen aus Berlin und Dresden, es sind Juliane Bauer, Anne Brinkmann, Doreen Heidrich und Bettina Paletta (mit Ausnahme von Anna Fingerhuth erneut die Besetzung von 2008) erzählen von diesen Zwängen in berührender Eindringlichkeit. In der großen Maschinenhalle, die heute Foyer des Kunstmuseums ist, entwirft die Choreografin eine Art magisches Feld, das von weißen Linien auf schwarzem Grund begrenzt ist. Auf dieser unausweichlichen Bahn, markiert mit einer Vielzahl ineinander geschobener leerer Blätter, die Akten, Manuskriptseiten, Briefe, überhaupt jegliche Art von Schriftstücken sein können, schiebt sich eine Frau Schritt für Schritt schleppend voran, und zuweilen erschrickt sie bei einem Aufeinandertreffen, es entsteht Chaos in den Linien. Und immer mehr drückt die Last, die ihr keiner abnehmen kann, sie zu Boden. Ein stummer Gang, der mehr sagt als alle Worte, und man spürt, wie erschreckend einsam jeder auf diesem Wege ist, wie Begegnungen meist nur neue Ängste auslösen, Hilfe kaum möglich ist. Da entsteht eine Spannung im Raum, die sich schwerlich aushalten lässt, akzentuiert Nicolle Dürschmid mit einem steten, fragilen Geigenton das Unausprechliche, Unbegreifbare der Situation. Das ist ein Stück über Traumata fernab suggestiver Betroffenheitsästhetik, und da bleibt auch die nötige Distanz zum konkret Erlebten. Man erahnt aber immerhin, wie es sich anfühlt, dieses Leben “danach”, spürt die Hoffnung, die Ausweglosigkeit, den Mut der Verzweifelten.
Fotos: Gabriele Gorgas